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Fäden der Stille: Leben unter den Changpas

Fäden der Stille: Leben unter den Changpas

Von Elena Marlowe

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Prolog – Die Kälte, die Wärme lehrt

Wenn der Wind zum Lehrer wird

Im Morgengrauen auf dem Changthang-Plateau ist der Wind die erste Stimme, die man hört. Er bewegt sich über ein Land, das so weit ist, dass es jede Vorstellung von Grenzen sprengt – eine Höhe zwischen 3.900 und 4.500 Metern, östlich bis nach Tibet. Hier, in der südöstlichsten Region Ladakhs, wo weniger als fünfzig Millimeter Regen im Jahr fallen, leben die Changpas, Nomaden, deren ganzes Leben zwischen Stein, Schnee und Himmel stattfindet. Ihr Zuhause ist nicht fest; es wandert im Rhythmus des Lebens selbst. Für den Außenstehenden mag es wie Exil erscheinen – für sie ist es Zugehörigkeit in Bewegung, eine Geografie, die man auswendig kennt.

Die Geografie des Durchhaltens

Ladakh liegt zwischen dem Karakorum und dem Zanskar-Gebirge, am Dach der Welt – dort, wo die Luft dünn ist, die Sterne nah und der Horizont lebendig wirkt. Doch selbst hier ist das Überleben weder Wunder noch Zufall. Das Leben der Changpas ist von Notwendigkeit geformt: die Höhe bestimmt den Herzschlag, der Wind den Kalender, der Schnee die Grenze zwischen dem Möglichen und dem Unmöglichen. Das Verwaltungszentrum, der Nyoma-Block, wurde 1966 gegründet und umfasst siebzehn kleine Dörfer – Samad, Kharnak, Rupshu, Korzok und andere. Sie sind weniger Siedlungen als saisonale Sternbilder. In Hanle, wo eines der höchsten Observatorien der Welt steht, blickt man in ferne Galaxien – und doch orientieren sich die Changpas unten immer noch an denselben Sternen wie ihre Vorfahren.

Die Changpas – Menschen des Windes

Nomaden der Anpassung

Die Changpas sind keine Überreste der Vergangenheit, sondern Träger eines der ausgeklügeltsten ökologischen Systeme der Welt: der mobilen Viehhaltung. Jede Familie besitzt Schafe, Yaks und die wertvollen Changra-Ziegen, die Quelle des Pashmina. Im Sommer leben sie in Yakhaarzelten, den Rebos, robust gegen den Wind und leicht genug, um dem Gras zu folgen. Im Winter ziehen sie sich in einfache Steinhäuser zurück. Ihre Wirtschaft basiert nicht auf Überfluss, sondern auf Austausch – zwischen Mensch und Tier, Land und Himmel. Dieses Gleichgewicht, über Jahrhunderte erhalten, ist das Herz von Ladakhs immateriellem Erbe.

Polyandrie und die Politik des Überlebens

Über Generationen praktizierten die Changpas Polyandrie – eine Frau heiratete mehrere Brüder derselben Familie. Es war kein Ausdruck von Exotik, sondern von Vernunft: In einer Landschaft, die keine Teilung erträgt, verhinderte dieses System die Aufsplitterung des Besitzes und sicherte die Arbeitskraft. Die Regierung verbot es in den 1940er Jahren – und zerstörte damit ein sensibles Gleichgewicht. Arbeitsmangel folgte, mehr Münder, weniger Herden, geringere Mobilität. Eine Studie aus dem Jahr 2020 zeigt, dass einige ältere Frauen diese Praxis noch immer als sinnvoll ansehen – nicht aus Nostalgie, sondern aus Erkenntnis: In einer Welt der Knappheit war Kooperation die reinste Form von Liebe.

Pashmina – Die Ökonomie der Zerbrechlichkeit

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Die Changra-Ziege und ihr Terrain

Unter den Symbolen Ladakhs ist keine so wirtschaftlich bedeutend – und so missverstanden – wie die Changra-Ziege (Capra hircus). Ihr Unterfell liefert die feinste Pashmina-Faser der Welt, dünner als ein menschliches Haar und wärmer als jede Wolle. Durchschnittlich besitzt eine Familie rund hundert Ziegen, die etwa 22 Kilogramm Rohfaser im Jahr liefern. Bei einem Marktpreis von 3.000 bis 3.500 Rupien pro Kilogramm ergibt das etwa 77.000 Rupien Einkommen. Dazu kommen Schafe und Yaks – insgesamt verdient ein Haushalt zwischen 150.000 und 200.000 Rupien im Jahr. Eine bescheidene Summe, aber lebensnotwendig in einer Region ohne Alternativen.

Das Paradox von Luxus und Mühsal

Pashmina ist ein Paradox. In den Boutiquen von Delhi oder Paris steht sie für Eleganz und Wohlstand – doch ihr Ursprung liegt in der Kälte, in rissigen Händen unter eisigem Himmel. Fünfzig Prozent des Einkommens gehen für Futter und Gerste drauf. Der Tauschhandel, der einst Sicherheit bot, ist einer Bargeldwirtschaft gewichen, die keine Stabilität kennt. „Früher hatten wir weniger Geld, aber mehr Gewissheit“, sagte eine Frau aus Kharnak. „Jetzt haben wir keines von beidem.“

Politik und ihre Lücken

Die Regierung bietet Zuchtprogramme, tierärztliche Schulungen und Subventionen bis zu 50 %. Doch sie erreichen selten die abgelegensten Höhen. Nomaden reisen Tage zu Tierarztstationen; Futterhilfe kommt oft zu spät. Genossenschaften existieren manchmal nur auf Papier. Die Infrastruktur der Hilfe endet dort, wo die Straße zum Staub wird. Pashmina mag auf globalen Märkten glänzen – doch ihre Wurzeln liegen im Atem eines einzigen Tieres unter einem frostigen Himmel.

Der verborgene Preis für die Umwelt

Mit der wachsenden Zahl der Herden leidet das Grasland. Überweidung zerstört den Boden, verdrängt Wildtiere wie Kiang und Bharal. Der Klimawandel beschleunigt diese Erosion: mildere Winter, unregelmäßiger Schnee, ausgetrocknete Quellen. Die Changpas stehen zwischen Überleben und Bewahrung – gezwungen, das Land zu erschöpfen, das sie lieben. Doch sie bleiben. Jede Faser, die sie kämmen, trägt ein Flüstern von Geduld – das Vermächtnis einer stillen Zivilisation.

Tradition im Wandel

1962 – Als die Berge geteilt wurden

Der Sino-Indische Krieg von 1962 schnitt durch den Changthang wie eine Narbe. Soldaten kamen, Straßen zerschnitten alte Weidewege, Flüchtlinge aus Tibet brachten neue Herden. Grenzen, einst nur Ideen im Schnee, wurden Mauern. Mit ihnen verloren die Changpas nicht nur Raum, sondern Erinnerung – denn jeder Pfad war ein Gebet. Als die Linie gezogen wurde, blieb das Gebet unvollendet.

Die langsame Anziehung der Stadt

Leh, einst Knotenpunkt des Karawanenhandels, zieht heute jene an, die Bildung und Medizin suchen. Ein Drittel der Changpa-Familien lebt inzwischen in Stadtnähe. Doch in Leh herrscht ein anderer Takt. Alte Männer, die einst Wolken lasen, schauen nun auf Wetter-Apps für einen Himmel, den sie nicht mehr riechen können. „Wir träumen vom Wind“, sagte einer, „aber er besucht uns nicht.“

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Bildung und das Vergessen der Sprache

Vierzig Schulen gibt es im Nyoma-Block, viele davon in Zelten. Wenn Schnee fällt, bleiben sie geschlossen. Eltern schicken ihre Kinder in Internate nach Leh – ein Akt der Hoffnung und der Trennung zugleich. Die Kinder lernen Englisch und Hindi, doch das Changskat verstummt. Mit jedem Zeugnisblatt verschwindet ein Stück Erzählung. „Wenn meine Enkelin liest, vergisst sie unsere Geschichten“, flüstert eine Großmutter in Samad. Fortschritt lehrt auch Vergessen.

Verschobene Landschaften des Überlebens

Die Arithmetik der Knappheit

Die Zahlen erzählen die Wahrheit: Die Hälfte des Einkommens fließt in Futter und Getreide. Strom ist instabil, Wasser gefroren, ärztliche Hilfe weit. Frauen tragen das Gewicht – Feuer, Milch, Kinder, Wolle. Jeder Haushalt ist Grenze und Familie zugleich. Wenn Schnee fällt, wird Fieber gefährlich. Geduld ist hier Währung.

Infrastruktur und die Illusion der Einbeziehung

Berichte sprechen von Versicherung, Weideschutz, Ausbildung. Doch wo die Höhe beginnt, endet die Umsetzung. LKWs kippen, Mobilfunk fällt aus, Konten bleiben virtuell. Fortschritt ist hier Distanz – zwischen Papier und Realität. „Sie kommen mit Kameras“, sagte ein Hirt, „nicht mit Futter.“ Ladakh braucht keine Zementstraße, sondern Verlässlichkeit – Futter, Wasser, Zuhören.

Die wandelnde Ökologie des Glaubens

Früher bestimmten Klöster den Rhythmus der Wanderung, heute auch SMS. Solarzellen glühen neben Butterlampen. Der Fortschritt hat den Changthang erreicht, aber nicht zerstört. Jeder Aufbruch beginnt noch immer mit Butter als Opfergabe. Ehrfurcht hat ihre Form geändert, nicht ihren Sinn.

Zwischen Politik und Erinnerung

Die unsichtbare Mehrheit

Die Changpas sind wenige – und doch tragen sie eine ganze Ökonomie. Ohne ihre Arbeit gäbe es kein Pashmina, keine Märkte. Doch ihre Stimme fehlt in den Räumen, wo über ihre Zukunft entschieden wird. Ihre Stille wird zu Unsichtbarkeit.

Abhängigkeit und Würde

Bargeld hat den Tausch ersetzt, nicht aber die Unsicherheit. Ungleichheit wächst, doch Würde bleibt. Sie begrüßen Fremde mit gesalzenem Tee und einem Wort: Julley – Hallo, Danke, Auf Wiedersehen in einem. Es fasst zusammen, was Überleben hier bedeutet: alles ist geteilt.

Schluss – Die Philosophie der Stille

Dem Wind wieder zuhören

Stille ist hier keine Leere, sondern Struktur. Die Changpas sind keine Relikte, sondern Lehrer des Gleichgewichts. Ihre Spuren im Staub sind Kapitel einer leisen Zivilisation. Entwicklung darf hier nicht schneller, nur weiser werden.

Der bleibende Faden

In Kharnak steht eine Frau im Morgengrauen, zündet Dung an und kämmt das Fell einer Ziege. Die Faser reist weit, über Ozeane, bis sie auf Schultern ruht, die ihren Namen nie hören werden. Doch ihre Wärme bleibt. Pashmina ist nicht Luxus – sie ist Landschaft in Stoff verwandelt. Härte zu Schönheit, Isolation zu Bedeutung. Das ist Ladakhs wahre Ökonomie.

Nachwort: Im Changthang zu leben heißt, mit der Erde zu sprechen. Seine Stille fragt, was Städte vergessen haben. Das Durchhalten der Changpas ist keine Nostalgie – es ist Lehre. Sie zeigt, dass Überleben und Gelassenheit denselben Horizont teilen können.

Elena Marlowe
Die erzählerische Stimme hinter Life on the Planet Ladakh
Eine Erzählerin, die die Stille, Kultur und Widerstandskraft des Himalaya-Lebens erforscht.
Ihre Arbeit ist ein Dialog zwischen inneren Landschaften und der hochgelegenen Welt Ladakhs.